Zwischen Verantwortung und Haltung

Sehr geehrte Damen und Herren,
die letzte Sitzungswoche vor der parlamentarischen Sommerpause hatte es in sich. Es hat sich einmal mehr gezeigt, wie eng Fragen der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und internationalen Verantwortung miteinander verflochten sind.
Der letzte Sitzungstag vor der Sommerpause war von einem tiefgreifenden Einschnitt geprägt und ein schwerer Tag für unser Parlament: Die Aussetzung der Wahl zur Richterin oder zum Richter am Bundesverfassungsgericht ist ein Vorgang, der weit über parteipolitisches Taktieren hinausgeht. Dass eine Kandidatin mit herausragender fachlicher Eignung und makellosem juristischen Werdegang zur Zielscheibe einer politisch motivierten rechten Hetzkampagne wird, lässt mich mit Sorge auf den Zustand unserer demokratischen Diskussionskultur blicken.
SPD und Grüne haben die Absetzung der Wahl der Bundesverfassungsrichter:innen beantragt, weil eine demokratische Mehrheit nicht sicher war. Denn die Union hat im letzten Moment einen gemeinsamen Vorschlag der Koalition fallen gelassen, anstatt demokratische Mehrheiten dafür sicher zu stellen. Die Gründe dafür überzeugen mich nicht. Es ist bitter, dass auf diese Weise das Bundesverfassungsgericht als zentrales Verfassungsorgan beschädigt wurde. Dass sich die Union, trotz vorheriger Absprache, von äußeren, nicht belegten Vorwürfen von rechten Plattformen hat treiben lassen, ist ein Bruch mit dieser Verantwortung. Ich stehe zur Kandidatin Prof. Brosius-Gersdorf.
Sie wurde vor fünf Wochen mit von Jens Spahn vorgeschlagen, am vergangenen Montag mit Zweidrittelmehrheit im Richterwahlausschuss gewählt. Diese Wahlvorschlag muss zeitnah im Parlament – von mir aus auch in einer Sondersitzung – durch das Parlament bestätigt werden. Lasst mich noch einen Gedanken an dieser Stelle loswerden: Ein Mann hätte sich solch einer Diffamierung und Diskreditierung nicht aussetzen lassen müssen. In diesem Fall handelt es sich um eine Frau, die möglicherweise dem Mitte-Links Spektrum zugeordnet werden kann. Dieser Frau wird sogar im Netz Gewalt angedroht, wenn sie die Kandidatur weiter aufrechterhält. Ein Grund mehr, nun klar Haltung zu zeigen. Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit der Menschen das ähnlich sieht!
Als außenpolitischer Sprecher meiner Fraktion war mein Blick in den vergangenen Wochen und Monaten besonders auf die sich zuspitzenden internationalen Konflikte gerichtet.
Die Lage im Nahen Osten hat dabei eine neue Dramatik erreicht. Besonders kritisch und aus meiner Sicht völlig inakzeptabel ist weiterhin die humanitäre Lage in Gaza. Die Ankündigung der israelischen Regierung, in Rafah ein sogenanntes „humanitäres Auffanglager“ zu errichten – mitten in einem Kriegsgebiet, ohne hinreichende Versorgung, ohne Schutz, ohne rechtliche Grundlagen. Dies wäre kein humanitärer Schutzraum, sondern ein alarmierender Schritt hin zu systematischer Entrechtung. Solch ein Lager, aus dem niemand zurückkehren darf, widerspricht fundamental den Prinzipien des humanitären Völkerrechts und entzieht den Menschen grundlegende Freiheiten. Die Menschen in Gaza brauchen kein Auffanglager, sondern Zugang zu Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung und ein Leben in Würde. Zudem wird mit dieser Strategie keine weitere Geisel freikommen und die Hamas nicht durch eine bessere Option abgelöst.
Eine echte Perspektive für die Region kann es nur durch Waffenstillstand, humanitäre Hilfe, politische Lösung und Wiederaufbau geben – nicht durch Zwangsumsiedlung. Als Bundesregierung werden wir uns beim Wiederaufbau von Gaza eng mit unseren Partnern abstimmen und Verantwortung für eine gerechte und menschenwürdige Zukunft übernehmen.
In den vergangenen Wochen haben zudem geplante Gespräche der Bundesregierung mit den Taliban für Diskussionen gesorgt. Auch hier ist Haltung gefragt: Eine politische Anerkennung der Taliban darf es nicht geben, solange sie Frauen und Mädchen systematisch entrechten und sich nicht glaubhaft von terroristischen Netzwerken distanzieren. Eine fundamentalistische Gruppe, die mit brutaler Gewalt herrscht und Frauen und Mädchen jede Freiheit nimmt, kann kein Gesprächspartner auf Augenhöhe sein. Realpolitik darf nicht zur Beliebigkeit werden. Zudem hat in dieser Woche der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen die Taliban-Führung für ihr verbrecherisches Handeln erlassen.
Als SPD-Fraktion stehen wir dabei auch klar zu unserer Verantwortung gegenüber ehemaligen Ortskräften und besonders bedrohten Menschen in Afghanistan. Wer sich unter Einsatz seines Lebens für uns engagiert hat, darf nicht im Stich gelassen werden. Deutschland gilt international als verlässlicher Partner. Diesen Ruf sollten wir hier nicht beschädigen, deshalb müssen die 2.400 Ortskräfte mit Zusage in Deutschland aufgenommen werden. Das müsste unsere Priorität sein – und nicht umgekehrt.
Diese außenpolitischen Krisen, so weit entfernt sie geografisch erscheinen mögen, haben direkte Auswirkungen auf uns hier in Deutschland. Deshalb setzen wir auf eine Politik, die Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Sicherheit zusammendenkt. Für mich bedeutet das: Wir müssen einerseits die Verteidigungsfähigkeit Europas stärken, angesichts des weiter andauernden russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, andererseits können wir nicht zulassen, dass die Mittel für humanitäre Hilfen und zivile Krisenprävention bis zu 53% gekürzt werden. Das macht uns außenpolitisch handlungsunfähig und unbedeutend.
Damit äußere, innere und soziale Sicherheit nicht gegeneinander ausgespielt werden, investieren wir wir massiv in die Zukunft unseres Landes. Mit dem beschlossenen Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro haben wir eines der größten Investitionsprogramme der Nachkriegsgeschichte auf den Weg gebracht – für moderne Infrastruktur, Klimaschutz, Digitalisierung, bezahlbaren Wohnraum, Bildung und die Stärkung unserer Wirtschaftskraft. Dass wir diese Mittel durch eine kluge Reform der Schuldenbremse möglich gemacht haben, ist ein Beweis für Handlungsfähigkeit und Weitsicht. Dabei stellen wir 100 Milliarden Euro gezielt für Länder und Kommunen bereit. Denn wir wissen: Die Transformation gelingt nur, wenn sie vor Ort ankommt – in unseren Schulen, Krankenhäusern, Straßen, in der sozialen Infrastruktur, bei Bus und Bahn. Damit sorgen wir nicht nur für ökonomischen Wachstum, sondern auch für sozialen Zusammenhalt und spürbare Verbesserungen im Alltag der Menschen.
Ich bin mir bewusst, dass viele Menschen derzeit verunsichert sind. Die Bedrohung durch Kriege, die wirtschaftlichen Herausforderungen und die politische Polarisierung – all das fordert uns als Demokratinnen und Demokraten heraus – und diese Verantwortung nehme ich sehr ernst – national wie international. Daher müssen wir als SPD der Stabilitätsanker in dieser Koalition und zugleich die Stimme der sozialen Gerechtigkeit sein. Gleichzeitig bin ich kein Freund von „linke Wange, rechte Wange“ hinhalten. Am Ende muss die SPD auch in einer Koalition mit der Union erkennbar bleiben.
Nun beginnt (vorerst) die parlamentarische Sommerpause – eine Zeit des Kraftschöpfens, aber auch des Zuhörens.
Ich freue mich auf viele Gespräche in meinem Wahlkreis und den persönlichen Austausch mit Ihnen. Gestern durfte ich schon auf dem DRK-Sommerfest in Misburg vor 100 Menschen sprechen. Das sind am Ende die Termine vor Ort, die einem Kraft spenden. Ich danke für den Rückhalt!
Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Sommer. Lassen Sie uns im Gespräch bleiben.
Ihr Adis Ahmetović, MdB